Orte und Worte: Gedächtnisräume im postsozialistischen Berlin

Aus dem Vorwort von Wolfgang Kaschuba«[...] Liza Candidi jedoch unternahm diesen schwierigen Versuch. Sie wagte sich in die Höhen und Tiefen, in die öffentlichen wie privaten Räume, in die Befindlichkeiten wie Befunde dieser sehr 'deutschen' Identitätssuche hinein. Und wie eine Archäologin wurde sie fündig und für ihren Mut belohnt, indem sie auf die kulturellen Formen und die sozialen Formationen einer neuen Gedächtnislandschaft stieß. Dort identifizierte und rekonstruierte sie fünf «Gedächtnisräume» dieser neuen erinnerungspolitischen Ordnung: das städtische Gedächtnis, das museale Gedächtnis, das institutionelle Gedächtnis, das mediale Gedächtnis und schließlich das private Gedächtnis. In dieser Anordnung und Ordnung 'erinnern' wir bewusst wie unbewusst noch heute. Und jeder einzelne dieser Räume präsentiert sich in unterschiedlichen Verfassungen, Farben und Mustern, deren Wahrnehmung je nach Herkunft, Lebensgeschichte und Zugehörigkeit des Betrachters oszilliert und daher auch keineswegs einfache und klare Bilder ergibt. Doch alle fünf zusammen fügen sich am Ende zu einem stimmigen und übersichtlichen Mosaik, das uns wirklich klüger macht - über uns selbst vor allem. Und das kann man nicht wirklich von vielen Büchern zur neuen deutschen Einheit sagen.Deshalb vermittelt diese Studie über 'Gedächtnisräume und Erinnerungspolitik im postsozialistischen Berlin' ganz besonders aufschlussreiche, weil tiefe und dichte Einblicke in die ideologische und erinnerungspolitische Werkstatt der deutschen Einheit. Denn in ihr können wir nun nachlesen, wie wir waren und wer wir sein wollten - in den ersten 30 Jahren 'danach'. Um dies zu erkunden und zu begründen, hat die Autorin nicht weniger als 244 Interviews geführt, mit prominenten wie normalen Berlinerinnen und Berlinern, zahllose Dokumente, Ausstellungen und Studien ausgewertet und viele alltägliche Begegnungen und Beobachtungen akribisch festgehalten. Auf der Grundlage dieser Untersuchungen zeichnet sie detailliert Stimmen und Stimmungen in Porträts, Szenen und Bilder nach, die in dieser Zeit vorherrschten und die uns alle prägten. In einer Zeit also, in der gerade in Berlin nach dem Mauerfall eine neue Epoche 'nach' der Nachkriegszeit begann und damit eben auch: ein neuer Modus des kollektiven Erinnerns wie des gemeinsamen Erlebens.Dass diese Zäsur nun bereits wieder 30 Jahre her sein soll, verblüfft mich wie gewiss viele andere - jedenfalls unter denjenigen, die diese Zeitspanne als eigene lebensgeschichtliche Gegenwart miterlebt haben. Den Jüngeren hingegen mag das deutlich schon als vergangene Geschichte erscheinen: als Erzählstoff der Älteren und als Beschwörungsformel der politischen Sonntagsprediger, jedoch nicht mehr als eigener Erfahrungs- und Erregungsstoff. - Wer Liza Candidis Buch gelesen hat, weiß indessen: Das kann auch täuschen!»